Interview zum Projekt Euro-Viking
Burghard Pieske im Interview mit dem Journalisten und Fotografen Jean Molitor
Jean Molitor: Herr Pieske; In Fachkreisen hat sich Ihre Euro – Viking – Therapie als ein Erfolgskonzept herumgesprochen. Wie kam es eigentlich dazu.
Pieske: Von einer Therapie sprechen wir im Verein nicht, und auch bin ich nicht der alleinige Initiator von unseren erlebnispädagogischen Flussexpeditionen. Aber der Reihe nach:
Es begann mit meinem neuen Abenteuer, das die Umseglung Europas mit Wikingerschiffen beinhaltete. Ich wollte die Route von der Ostsee zum Schwarzen Meer zunächst auf den Flüssen Düna und Dnjepr über 3000 km rudern und , falls möglich, segeln.
Molitor: und dazu brauchten Sie natürlich Ruderer.
Pieske: Genau. Ein alter Bekannter, ein Sozialpädagoge, suchte mir mit seinen vielen Beziehungen ein paar Freiwillige aus: alles Jugendliche ohne Schulabschluss, arbeits- und perspektivlos, sozial ausgegrenzt, teilweise mit Erfahrungen von sexuellem Missbrauch, Drogenkonsum und Jugendknast.
Molitor: Sie als Lehrer haben ja auch die Qualifikation junge Menschen zu erziehen …
Pieske: Ja, so dachte ich auch, aber – mein Gott – was war ich naiv. Die Testreise in der Wildnis in Litauen war das totale Chaos. Und der größte Chaot war ich. Was mir da an Respektlosigkeiten, Beleidigungen um die Ohren gehauen wurde, Aggressionen mit Gewaltandrohung und offener Meuterei, so was war mir bisher nie begegnet. Druck erzeugt Gegendruck. Ich wollte mehrmals aufgeben, sagte mir aber: Das hast du dir jetzt eingebrockt, nun zieh es auch durch. Ich habe nach der ersten Woche mein Verhalten total geändert – und sofort veränderte sich das Verhalten meiner Crew. Wir sind tatsächlich drei Wochen zusammengeblieben und fanden irgendwie zu einer funktionierenden Zwangsgemeinschaft. Am Ende der Reise sagte ich mir: Gott sei Dank, das war`s, aber: Nie wieder!
Molitor: Nie wieder? Mittlerweile sind Sie seit sechs Jahren mit den randständigen Jugendlichen durch Lettland, Weißrussland und der Ukraine gezogen, haben das Schwarze Meer erreicht. Wie ist das zu erklären?
Pieske: Wenige Tage nach der Testreise klingelte bei mir mehrfach das Telefon von den Betreuern und Bewährungshelfern meiner Crewmitglieder. „Herr Pieske, was ist dort in Litauen passiert? Der Michael, Thomas, Daniel usw. sind nicht wiederzuerkennen.“ Ein solch positiver Entwicklungssprung ist unfassbar. Machen Sie um Gottes Willen weiter.
Mit den Leitern des Vereins „Alte Schule“, mit Heinrich Jenkel und Christof Müller, beide mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Jugendarbeit sind wir die Testreise minutiös durchgegangen und haben eine dreiwöchige Flussexpedition neu strukturiert und unter die Aufgabe gestellt: Wir wollen junge Menschen dazu bringen, ihr Leben radikal zu ändern, mit dem Ziel: Schule, Ausbildung, erster Arbeitsmarkt. Mir ist bei diesen Gesprächen klargeworden, das meine zehnjährige Weltumseglung die Voraussetzung war, so gezielt wieder in die Jugendarbeit einzusteigen. Die See, der Wind, das Wetter, kurz, die Natur war immer oberste Instanz für Erfolg oder Misserfolg. Die Werte, die Verhaltensweisen und Einstellungen die die Natur mir vermittelte und abgefordert hat sind in dieses Jugendprojekt vorrangig eingeflossen. Wir haben eine Outdoor-Therapie entwickelt, die sich aus einer gestellten Aufgabe definiert.
Molitor: Also doch eine Therapie für arbeitslose Jugendliche?
Pieske: Nun ja, wobei nicht der Mensch, sondern die Natur der Therapeut ist. Wir Betreuer verfolgen nicht ein erlebnispädagogisches Konzept, das von Theoretikern und Fachwissenschaftlern projektiert wurde. Wir sind durch unsere Erfahrungen bei Extremreisen die Stimme der Natur, d. h. alle Anordnungen und Regeln, die wir verkünden, sollen dem Jugendlichen helfen sein Leben während der Expedition zu erleichtern. Wichtiger noch ist, dass der Jugendliche motiviert, ja geradezu überzeugt wird, sein Leben nach der Reise radikal zum Positiven zu verändern.
Den ausgestreckten Zeigefinger gibt es nicht, sondern vorleben, machen, beraten. Die erste Woche ist im Grunde die Zeit, die wir Betreuer brauchen, um eine Brücke des Vertrauens zu den Jugendlichen herzustellen. Keine Erziehung ohne Beziehung.
Molitor: Und dieser Lern- und Entwicklungsprozess stellt sich tatsächlich so schnell ein?
Pieske: Bei den einzelnen Teilnehmern natürlich sehr unterschiedlich, aber allgemeingültig ist eine sichtbare und spürbare Veränderung bei Jedem.
Molitor: Spielt dabei das Wikingerschiff eine Rolle?
Pieske: Das Wikingerschiff verbunden mit der Aufgabe, die historisch verbürgte Ostroute der Wikinger nachzuvollziehen, gibt unserem Unternehmen einen realen Bezug. Das Wikingerschiff ist der Mittelpunkt der Expedition. Weil die Menschen, die wir in den abgelegenen Dörfern Weißrusslands oder der Ukraine treffen, auf die Expedition mit Einladungen und Geschenken reagieren. Auftritte im russischen Fernsehen, Kosaken-Hochzeit, Einladungen von Bauern, die am Fluss leben, Besuch eines Folklorefestivals u. v. m. wäre ohne Schiff nicht denkbar. Die Jugendlichen erkennen plötzlich den Wert ihrer Leistung durch echte Anerkennung und einmalige Gastfreundschaft. Denn das ist ja das Prinzip von Euro – Viking in Kurzform: Am Anfang steht die Leistung, denn Leistung bringt Erfolg. Erfolg bringt Anerkennung. Anerkennung macht selbstbewusst, und ein gesundes Selbstbewusstsein ist die Voraussetzung, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
Molitor: Welche Leistung wird denn von jedem Teilnehmer konkret gefordert?
Pieske: Täglich mindestens 4 Stunden zu rudern nach einem halbstündigen Rotationsprinzip, d. h. 30 Minuten auf der Ruderbank – dann Wechsel. Pro Tag müssen 50 Kilometer bewältigt werden, um das Camp am Abend zu erreichen. Machst du was, kriegst du was – machst du nichts, kriegst du nichts. Nicht mal mal was zu essen, nämlich, wenn das voraus liegende Lager mit dem Proviant und den Zelten eben nicht erreicht wird. Die Alltagsstruktur fordert von jedem Einzelnen Leistung, knallhart und konsequent. Und diese Struktur diktiert der Fluss, die Natur. Wer z. B. seine Regenjacke morgens vergisst, sitzt den Rest des Tages,wenn es geregnet hat, wie ein abgenadelter Tannenbaum im Boot. Wer unpünktlich los rudert, dem versagt der Fluss die Gratis-Kilometer, weil wir mit dem Strom rudern, und wer seinen Ruderriemen nur „badet“ statt durchzuziehen, der delegiert seinen Arbeitsanteil auf die Kameraden. Die regeln das dann schon, weil der Fluss uns den individuellen Krafteinsatz in Form von Ruderwirbeln permanent mitteilt.
Molitor: Was unterscheidet eigentlich Euro – Viking von anderen erlebnispädagogischen Konzepten?
Pieske: Zunächst: Wir haben, wie schon gesagt, gar kein Konzept. Jede Expedition verläuft anders. Wir stellen nur die Rahmenbedingungen z. B. in Sachen Sicherheit oder Hygiene und einem absoluten Alkoholverbot. Wir haben besonders für die Betreuer Richtlinien aufgestellt: d. h. Jeder Betreuer rudert auch vier Stunden, wäscht ab, sammelt Feuerholz, zerrt das Schiff – falls notwendig – über Land. Es gibt bei uns keine Patienten und Therapeuten. Es gibt bei uns nur eine Crew – unterschiedlich in Alter, Herkunft, Ausbildung und Beruf, aber wir rudern alle unter dem Diktat einer gemeinsamen Aufgabe.
Das zeigt sich besonders bei der wichtigsten Stunde des Tages, beim sogenannten „recap“, beim Rekapitulieren des Tages am allabendlichen Lagerfeuer. Hier wird Klartext geredet, erklärt, gelobt, gelauscht und gelacht. Hier werden schon nach kurzer Zeit die Jobs vergeben: Jeder Jugendliche erhält seinen erkennbaren Fähigkeiten entsprechend eine spezielle Aufgabe: z. B. Koch, Mechaniker, Scout, Einkäufer mit Buchführung usw. Am Feuer werden Zukunftspläne geschmiedet und schwere Kindheitserlebnisse aufgearbeitet. Beim „recap“ haben sich schon junge Menschen erstmalig unter Tränen geoutet, haben die Tür ihres Schicksals geöffnet, weil sie wussten und sich sicher waren: In dieser Abenteurer-Familie kann ich das. Besonders die Anerkennung für herausragende Leistungen finden in diesen magischen Momenten am Feuer eine besondere Gewichtung. Und diese Anerkennung ist echt, weil die Ursache dafür, für jedermann sichtbar war. Mut, Durchhaltevermögen, Disziplin, Arbeitseinsatz, Motivation – diese Werte und Tugenden werden bei Euro – Viking nicht thematisiert oder durch besondere Übungen verifiziert. Wenn wir unser Schiff über Klippen oder sogar Wasserfälle rudern, wenn plötzlich eine Pontonbrücke unseren Fluss absperrt oder wir auf einer Sandbank stranden, dann werden diese Werte abgefordert. Wir überwinden nicht künstliche Hürden sondern sehr reale. Ich muss dann klare Anweisungen geben, ja Befehle – und jeder von den jungen Menschen erkennt, dass diese Befehle immer in einem Sinnzusammenhang stehen. Letztlich begreifen sie unter Schimpfen und Fluchen, dass diese Anweisungen für sie sind und nicht gegen sie. Auch wenn manchem Uneingeweihten die Expeditions-Therapie (nennen wir sie mal so) wie ein sibirisches Straflager anmutet – sie ist ja genau das Gegenteil: ein Haufen unterschiedlicher Menschen, die sich durch die einsamen Sumpf und Flussgebiete des Ostens schlägt, unter dem Motto; nur gemeinsam sind wir stark. Die dreiwöchige Wikinger-Expedition ist ein Stück komprimiertes Leben, mit Lachen und Weinen, mit härtester Anspannung aber auch Entspannung, ein Stück Realität, das mit allen Sinnen für den Jugendlichen erfahrbar wird. Meine Aufgabe sehe ich darin, dass junge Menschen aus teilweise asozialen Verhältnissen erstmalig in eine neue Wertewelt schauen, und nicht nur schauen, sondern eine neue Lebenssituation meistern und damit ein positives Lebensgefühl entwickeln. Ich will, dass meine Crewmitglieder total begeistert und nachdenklich nach Hause fahren, was mir wirklich in nahezu allen Fällen gelingt.
Molitor: Da drängt sich natürlich die Frage über die Nachhaltigkeit des Projektes auf. Kann so eine Expedition einen jugendlichen Straftäter für immer bessern?
Pieske: Nun, wir von Euro – Viking sind keine Wunderheiler. Es ist schlichtweg unmöglich aus einem jugendlichen Gewalttäter in drei Wochen einen barmherzigen Samariter zu machen.
Aber lassen wir die Zahlen sprechen: 72 Jugendliche haben an der Wikinger-Reise von der Ostsee bis ins Schwarze Meer teilgenommen. Alle Jugendlichen hatten keinen Hauptschulabschluss, also null Chance einen Ausbildungsplatz geschweige denn einen Arbeitsplatz zu bekommen.
23 haben bisher den Hauptschulabschluss nachgeholt, eine Ausbildung begonnen, und einige sind sogar in ein festes Arbeitsverhältnis eingetreten. Diese 23 jungen Menschen wären mit Sicherheit lebenslang auf Sozialhilfe angewiesen – eine horrende Summe für den Steuerzahler und auch eine langjährige Herausforderung für die Gesellschaft. Aber auch diejenigen, die wir nicht aus den alten Zugehörigkeiten und Seilschaften, wie rechtsradikaler Gruppe oder Straßengang, lösen konnten, haben eine Alternative zu ihrer chaotischen Gegenwart – wenn auch nur für drei Wochen – gelebt. Zu ihrer Biografie mit schlimmen Kindheitstraumata und chaotischen Jahren gehören jetzt auch die Positivwochen im Wikingerschiff . Dieses Abenteuerleben auf Zeit hat prägende Eindrücke vermittelt, bei einigen sogar mit Spätfolgen.